Das Bundesamt für Justiz hat heute die von den Professoren Jean-Philippe Dunand und Pascal Mahon verfasste Studie "Etude sur la protection en cas de grève licite" (Studie über den Schutz im Falle eines rechtmässigen Streiks) veröffentlicht. Die Studie ist vom Staatssekretariat für Wirtschafts (Seco) und vom Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben worden, nachdem SGB und VPOD die ILO angerufen hatten. Grund war damals die Entlassung von Streikenden im Neuenburger Spital La Providence.
Es ging und geht den Gewerkschaften darum, die von der Schweiz ratifizierten ILO-Übereinkommen Nr. 87 (Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes) und Nr. 98 (Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen) durchzusetzen. Faktisch sind in unserem Land die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerseite (Gewerkschaftsdelegierte, Mitglieder der Personalkommissionen) nicht vor antigewerkschaftlicher Kündigung geschützt. So wird auch die Entlassung dieser Personen nicht als missbräuchlich betrachtet, insbesondere wenn der Arbeitgeber hypothetische oder konkrete „wirtschaftliche Schwierigkeiten“ geltend macht. Ausserdem ist es unmöglich, diese Kündigungen rückgängig zu machen, selbst wenn die Missbräuchlichkeit der Massnahmen klar erwiesen ist. De facto wird mit der Entlassung das Arbeitsverhältnis aufgelöst, Klagen können durch die beklagten Firmen mit Entschädigungen aus der Portokasse – 2 bis 3 Monatslöhne – erledigt werden.
Schon mehrmals hat die ILO die Schweiz aufgefordert, ihr Arbeitsrecht anzupassen. Insbesondere hat sie empfohlen, die geltenden gesetzlichen Bestimmungen so zu ändern, dass die Wiedereinstellung von Arbeiternehmervertreterinnen, die Opfer von antigewerkschaftlichen Kündigungen wurden, möglich wird. Ansonsten ist aus ILO-Sicht die Koalitionsfreiheit nicht gewahrt. Trotzdem hat der Bundesrat bisher alles in seiner Macht Stehende getan, die Problematik zu verschleppen.
Damit muss jetzt Schluss sein: Die Studie "Etude sur la protection en cas de grève licite" bestätigt wesentliche Argumente der Gewerkschaften. Sie unterstützt einerseits den Vorschlag, wonach der Höchstbetrag der Entschädigungen auf 12 Monatssaläre zu erhöhen ist. Sie eruiert zudem Möglichkeiten, den Schutz von Arbeitnehmervertretungen im Rahmen von GAV zu verbessern. Trotzdem gilt es festzuhalten, dass die in der Studie vorgeschlagenen Lösungsansätze noch deutlich unter dem Niveau sowohl der ILO-Empfehlungen wie auch der gesetzlichen Bestimmungen der grossen Mehrheit der westeuropäischen Staaten bleiben.
Der VPOD hält daher an seiner Hauptforderung fest: das Obligationenrecht muss überarbeitet werden. Die Wiedereinstellung von Arbeitnehmervertreterinnen und von Personen, die ihre gewerkschaftlichen Rechte ausüben, muss ermöglicht werden. Dies ist das einzige Mittel, um der Vereinigungsfreiheit Nachachtung zu verschaffen. Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz den ILO-Empfehlungen folgt.