07.09.2021 – von Beatriz Rosende
Der Einsatz der Arbeitnehmenden im Gesundheitswesen muss bei den Lohnverhandlungen für 2022 berücksichtigt und gewürdigt werden. An ihrer heutigen Medienkonferenz fordern SGB-Verbände Lohnerhöhungen von mindestens 2 Prozent oder 100 Franken pro Monat.
Schon vor der Pandemie hatten einige wenige Studien eine wohlbekannte Tatsache in den Spitälern, Alters- und Pflegeheimen und weiteren Gesundheitseinrichtungen bestätigt: In der Schweiz steigen die Angestellten im Gesundheitswesens sehr oft nach wenigen Jahren aus ihrem Beruf aus. Eine aktuelle Untersuchung hält fest, dass mindestens die Hälfte der über 50-Jährigen Pflegefachfrauen ihren Beruf aufgegeben haben. Handelt es sich hier um eine altersbedingte Erschöpfung? Mitnichten, denn auch mindestens 32 Prozent der Frauen, die jünger als 35 Jahre sind, steigen aus ihrem Tätigkeitsbereich aus.
Warum verlässt man einen solch sinnerfüllenden Berufe? Einen Beruf, der uns inzwischen als «heroisch» gilt?
Zunächst erklärt die unmögliche Vereinbarkeit von Familie, Berufs- und sozialem Leben diese Flucht. Wenn Dienstpläne sieben Arbeitstage pro Woche vorsehen, tags und nachts, wenn die Arbeitszeiten jede Woche anders sind und wenn unzählige Überstunden geleistet werden müssen, wird man schnell merken, dass alle nicht beruflichen Aktivitäten schwierig oder unmöglich zu organisieren sind. Dazu kommen der Stress am Arbeitsplatz – in einem Beruf, wo es um Leid, Leben, Tod und Krankheit geht – und die chronische Überlastung, wenn es Familienaufgaben, sportliche oder kulturelle Aktivitäten geht. Unter diesen Umständen ist ein bricht man schnell zusammen.
Es überrascht also nicht, dass der Gesundheitsbereich an erster Stelle der Berufe steht, die zu Erschöpfung und Burnout führen.
So reduzieren die Frauen, die uns in den Krankenhäusern pflegen, unsere Eltern in den Alters- und Pflegeheimen und unsere Verwandten zu Hause betreuen, angesichts der enormen Beanspruchung folglich oft sehr früh in ihrer beruflichen Laufbahn ihr Arbeitspensum. Das führt zu drastischen Gehaltssenkungen. Und für diejenigen, die in diesem Bereich bis zum Ruhestand arbeiten – und das sind immer weniger –, gibt es enorme Rentenverluste.
Der Gesundheitsbereich beschäftigt hochqualifizierte Arbeitskräfte – Pflegefachfrauen und -männer mit langjähriger Aus- und Weiterbildung – und andere mit geringer oder keiner Qualifikation – PflegehelferInnen, Assistentinnen, Reinigungskräfte, die eine körperlich sehr anspruchsvolle und strapaziöse Arbeit machen. Für die Qualifizierten reicht das Gehalt nicht mehr aus angesichts der Opfer, die sie tagtäglich erbringen; für die anderen deckt selbst der volle Lohn kaum das Existenzminimum.
Zu Beginn der Pandemie gab es mit dem Beifall von den Balkons grosse Hoffnungen, als würde ein politisches Bewusstsein entstehen, das zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmenden an vorderster Front der Pandemie führen würde. Daraus wurde nichts. Die Lohnskalen haben sich nicht verändert. Die Covid-Prämien, sofern es sie überhaupt gab, entschädigen das aussergewöhnliche Engagement über mehr als ein Jahr nicht. Und in einigen Kantonen sieht sich unsere Gewerkschaft sogar mit Offensiven der Arbeitgeber konfrontiert, welche die Arbeitszeiten erhöhen, automatische Stufenanstiege abschaffen oder einen Leistungslohn einführen wollen!
Tatsache ist, dass Männer in diesem Bereich seltener aus dem Beruf aussteigen als Frauen und ihr Pensum im Durchschnitt nur geringfügig reduzieren. Das Problem der Gehälter im Gesundheitsbereich ist also eine geschlechtsspezifische Frage. Die Frauenberufe werden nicht ausreichend gewürdigt, weil sie weiblich sind. Nehmen wir die Gehaltstabellen der kantonalen Verwaltungen: Eine Pflegefachfrau (mit FH-Abschluss) erhält – bei gleichem Arbeitspensum – ein viel geringeres Gehalt als ein Gymnasiallehrer mit gleichwertigem Abschluss. Und wenig qualifizierte Frauen verdienen noch weniger als ihre Kollegen in Sektoren mit ähnlich harten Arbeitsbedingungen.
Die Covid-Krise hat zu einem Anstieg des Interesses an Gesundheitsberufen und der Anmeldungen an den Schulen für diese geführt. Wenn wir sicherstellen wollen, dass diese AbsolventInnen nicht sehr schnell aus ihrem zukünftigen Beruf wieder aussteigen, müssen wir dringend die Löhne erhöhen und die Arbeitszeiten reduzieren.
Das Gesundheitspersonal ist seit Monaten für die Bevölkerung im Dauereinsatz. Am 30. Oktober wird es sich auf dem Bundesplatz für seine eigenen Interessen einsetzen: bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.
Mehr Infos zum 30. Oktober » Santé en lutte - Gemeinsam mit dem Gesundheitspersonal