Der Entscheid des Bundesgerichts hebelt das in der Bundesverfassung garantierte Streikrecht aus. Gemäss Bundesgericht waren die Forderungen der Streikenden des Privatspitals La Providence unverhältnismässig: Die Streikenden haben den bestehenden kantonalen Gesamtarbeitsvertrag verteidigt und gegen Verschlechterungen durch private Investoren gekämpft. Das Bundesgericht masst sich an, die Verteidigung von bestehenden Bedingungen als „unverhältnismässig“ und damit den Streik als illegal einzustufen – damit würde das in der Bundesverfassung garantierte Streikrecht faktisch abgeschafft. Deshalb legt der VPOD beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg Beschwerde ein.
Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung im Privatspital La Providence in Neuenburg in den Jahren 2012 und 2013. Das Privatspital La Providence wurde damals vom Genolier-Konzern GSMN aufgekauft, die privaten Investoren kündigten den Anschluss an den regionalen Gesamtarbeitsvertrag "Santé 21“. Dieser GAV 21 gilt für fast das ganze Neuenburger Gesundheitswesen, alle anderen Spitäler, die kantonale Spitex und die meisten Alters- und Pflegeheime. Die Einhaltung des GAV 21 ist auch Voraussetzung dafür, auf die kantonale Spitalliste zu kommen und Subventionen zu erhalten.
Die Privatspitalgruppe Genolier kündigte 2012 den GAV, um die Löhne und Zulagen zu senken und die Arbeitszeit zu verlängern. Gleichzeitig verlangte Genolier weiterhin kantonale Subventionen und richtete sein Angebot auf lukrative Spezialangebote aus.
In der bisherigen Rechtsprechung zum Streikrecht hatten die Gerichte bis hin zum Bundesgericht jeweils geprüft, ob die Voraussetzungen für einen legalen Streik gegeben waren: ob sich also die Forderungen auf die Arbeitsbeziehungen bezogen, von einer Gewerkschaft getragen waren, ob Konfliktlösung in Verhandlungen versucht und gescheitert waren, die Existenz des Betriebes nicht in Frage gestellt wurde.
Mit dem Urteil betreffend La Providence radikalisiert sich das Bundesgericht: Es masst sich an, die Forderung nach Erhalt des bestehenden Branchen-Gesamtarbeitsvertrages als „unverhältnismässig“ einzustufen und den Streik dafür als illegal zu qualifizieren. Damit würde das in der Bundesverfassung Art. 28 garantierte Streikrecht ausgehebelt .Selbst rein defensive Streiks zur Verhinderung von Verschlechterungen würden illegal, wenn das Bundesgericht hinterher feststellen würde, dass nach Auffassung der Richterinnen und Richter eine Verschlechterung zumutbar wäre.