Für eine bessere Zukunft der Hochschulbildung und Forschung

Von: European Trade Union Committee for Education ETUCE

Das Europäische Gewerkschaftsbund für Bildung ETUCE fordert u.a. "Dauerstellen für Daueraufgaben" an den Hochschulen und kurzfristig die Verlängerung der Verträge. Hier die Resolution.

In den letzten zehn Jahren sind die öffentlichen Mittel zur Grundfinanzierung von Hochschulbildung und Forschung in vielen europäischen Ländern reduziert worden – mit negativen Folgen für Qualität und Gerechtigkeit.

Die öffentliche Grundfinanzierung wurde vielfach durch wettbewerbs- und marktorientierte Instrumente ersetzt, wie z. B. durch kennzahlen- und leistungsbasierte Finanzierung. Dies hat eine stärker kurzfristig ausgerichtete Orientierung alle Aktivitäten zur Folge sowie eine Schwächung der Grundlagen- und am Erkenntnisinteresse ausgerichteten Forschung ebenso wie aller Forschungsbereiche, die keinen unmittelbaren Anwendungsbezug haben;

2. Die übermäßige Konzentration auf kurzfristige numerische Ziele bedroht auch die Qualität der Hochschulbildung und Forschung. Alle qualitativ hochwertigen Aktivitäten in der Hochschulbildung und Forschung erfordern ein langfristiges Engagement des Staates, der Universitäten, anderer Hochschulbildungseinrichtungen und Fördergremien, das im Einklang mit dem intensiven Engagement der Hochschullehrkräfte und Forschenden für ihre Arbeit steht. Stattdessen hat die Fixierung auf eine kennzahlen- und leistungsbezogene Finanzierung eine Zunahme der prekären Beschäftigung befördert;

3. Auf die Hochschulbildungseinrichtungen und Universitäten wird enormer Druck ausgeübt, stärker arbeitsmarktorientierte Programme anzubieten und die öffentlich finanzierte Forschung enger mit den Interessen der Wirtschaft zu verknüpfen. Darüber hinaus sind den Universitäten neue Aufgaben übertragen worden, z. B. die Organisation/Bereitstellung von Programmen zur Förderung des lebenslangen Lernens;

4. Quasi-marktwirtschaftliche Strategien, Führungs- und Organisationsmodelle – die oft blauäugig aus dem privaten Sektor übernommen werden, ohne ihre negativen Auswirkungen auf die Qualität der Hochschulbildung und Forschung zu verstehen – haben auch die Mechanismen untergraben, die die akademische Freiheit und kollegiale Selbstorganisation schützen;

5.Langfristig können nur akademische Freiheit, kollegiale Selbstorganisation, Festanstellung und das Streben nach kontinuierlicher Weiterentwicklung – unterstützt durch eine nachhaltige, langfristige Finanzierung – dazu beitragen, dass die Gesellschaft und die Menschheit insgesamt im breiten Umfang von der Hochschulbildung und Forschung profitieren;

6.Durch die repressive staatliche Politik autoritärer Regierungen und das Erstarken antidemokratischer Kräfte werden die akademische Freiheit und die institutionelle Autonomie in einigen europäischen Ländern auch direkt angegriffen;

7.In den letzten zehn Jahren sind sinnvolle Tarifverhandlungen und Instrumente des sozialen Dialogs im Bereich Hochschulbildung und Forschung stetig ausgehöhlt worden. Dies hat zu sinkenden Gehältern und erhöhter Arbeitsbelastung, Lohnungleichheit und Arbeitsplatzunsicherheit geführt;

8.Kollegiale Selbstorganisation, hochwertige Arbeitsbedingungen, Erstausbildung und kontinuierliche berufliche Weiterentwicklung sind entscheidend, um eine qualitativ hochwertige Forschung und Lehre sowie effektive Studienergebnisse für Studierende zu gewährleisten. Die Einhaltung dieser Verpflichtungen ist im Kommuniqué von Rom, der Abschlusserklärung der Bologna-Nachfolgekonferenz von 2020 verankert, die von den am Bologna-Prozess beteiligten Ländern (Europäischer Hochschulraum) verabschiedet wurde;

9.Vielfalt unter den Hochschullehrkräften, Mitarbeitenden und Forschenden sowie angemessene öffentliche strukturelle Investitionen in eine hochwertige Erstausbildung und die kontinuierliche berufliche Weiterentwicklung von Hochschullehrkräften und anderem Hochschulpersonal sind unerlässlich, um die soziale Dimension der Hochschulbildung und Forschung zu gewährleisten. So heißt es im Kommuniqué von Rom, Anhang II „Grundsätze und Leitlinien zur Stärkung der sozialen Dimension im Europäischen Hochschulraum“;

10.Die Coronaviruspandemie hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Organisation, die Finanzierung und den gleichberechtigten Zugang zu Hochschulbildung und Forschung in Europa sowie auf die akademische Freiheit und die Rechte am geistigen Eigentum von Hochschullehrkräften und Forschenden. Eine Reihe bestehender Trends, die wir schon seit einiger Zeit beobachten, sind durch die Pandemie in vielfacher Hinsicht verstärkt worden. Zudem hat sie zusätzliche Belastungen für Studierende und Hochschulpersonal verursacht;

11.Zu diesen zusätzlichen pandemiebedingten Belastungen für Hochschullehrkräfte und Forschende gehören unter anderem:

a.Die rasante Umstellung auf „Notfall-Fernunterricht“ und die zunehmenden Aufforderungen zur längerfristigen Entwicklung von Online- und Blended-Learning-Angeboten für eine größere Studierendenpopulation sowie die sich daraus ergebenden erheblichen Konsequenzen für Pädagogik, Arbeitsbedingungen, Datenschutz und die Rolle kommerzieller EdTech-Unternehmen in der Hochschulbildung;

b.Die Einführung eines „Notfallkonzepts“ für die Steuerung und Organisation der Hochschulbildung und For-schung, das die demokratische und kollegiale Selbstorganisation einschränkt und weiter schwächt;

c.Änderungen der Prüfungs- und Bewertungsverfahren in der Sekundarstufe II und an den Universitäten und deren Auswirkungen auf die Zulassung von Studierenden und deren Studienfortschritte;

d. Die Behinderung von Forschungs- und Promotionsprogrammen, die schwerwiegende Folgen für Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen mit befristeten Verträgen und Stipendien hat, falls sie ihre Forschungsarbeiten nicht gemäß Zeitplan durchführen/abschließen können;

e.Eine zunehmende, häufig durch die Finanzierung verursachte Trennung von Forschung und Lehre, die an der steigenden Zahl der ausgeschriebenen Stellen entweder für die Lehre oder für die Forschung erkennbar ist, mit denen Personalstellen ersetzt werden, die Forschung und Lehre miteinander verbinden, sodass die Qualität sowohl der Forschung als auch der Lehre bedroht ist;

f.Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit befristeten Arbeitsverträgen, die am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehen und kleine Kinder haben, sind aufgrund ihrer Betreuungs- und Heimunterrichtsverp-flichtungen häufiger als andere von verpassten Karrierechancen betroffen, wobei die negativen Auswirkungen für Wissenschaftlerinnen am stärksten sind;

g.Der Druck auf Wissenschaftlerinnen, einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Betreuungsaufgaben (einschließlich der Betreuung ihrer KollegInnen und Studierenden) und Heimunterricht für ihre Kinder zu übernehmen, zu Lasten ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit und Karriere;

h.Pandemiebedingte Beschränkungen der internationalen Mobilität für Studierende, Lehrende, Forschende und andere Hochschulmitarbeitende in Europa; i.Erhöhte finanzielle Unsicherheit für Hochschulen aufgrund vermehrter Studienabbrüche, des Rückgangs der Zahl ausländischer Studierender und der anhaltenden Volatilität der kennzahlen- und leistungsbezogenen Finanzierung sowie die Furcht vor zukünftigen Haushaltskürzungen.

12.Die Coronaviruskrise hat auch zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen geführt, u. a. zu einer massiv gestiegenen Arbeitsbelastung durch Online- und Blended-Learning-Angebote und zum Verlust von Arbeitsplätzen für befristet Beschäftigte und Aushilfskräfte. Von diesen Entwicklungen sind bestimmte Mitarbeitergruppen wie Frauen und ethnische Minderheiten unverhältnismäßig stark betroffen. Die Pandemie hat sich auch negativ auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Hochschullehrkräften und Studierenden ausgewirkt. Wir sind besorgt, dass viele der durch die Reaktion auf die Coronaviruspandemie verursachten Veränderungen dauerhaft sein werden;

13.Zudem hat das vergangene Jahr deutlich gemacht, welche maßgebliche Rolle Hochschullehrkräfte und Forschende bei der Gewährleistung der Kontinuität der universitären Ausbildung während einer globalen Pandemie spielen und welchen entscheidenden Beitrag Forschung und Wissenschaft, einschließlich der Geistes- und Sozialwissenschaften, zur Bewältigung des Gesundheitsnotstands leisten. Die Pandemie hat auch die Bedeutung von frei lizensierten Bildungsmaterialien (Open Educational Resources), des freien Zugangs zu wissenschaftlicher Literatur (Open Access) und der Öffnung des wissenschaftlichen Prozesses (Open Science) für die Hochschulbildungs- und Forschungssysteme in Europa aufgezeigt. Darüber hinaus hat die Coronaviruskrise die wichtige Rolle der Bildungsgewerkschaften bei der Priorisierung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz bestätigt;

14.Als Reaktion auf die Krise muss eine Agenda für nachhaltigere und integrative Hochschulbildungs- und Forschungssysteme in Europa für die Zeit nach der Pandemie entwickelt werden. Den Bildungsgewerkschaften kommt bei der Gestaltung der zukünftigen Hochschulbildungs- und Forschungspolitik und -strategien in Europa eine Schlüsselrolle zu.

Deshalb ruft die Sonderkonferenz das EGBW und seine Mitgliedsorganisationen auf:

15.Kürzungen der Hochschulbildungs- und Forschungsbudgets und/oder staatliche Versuche, in Reaktion auf die Wirtschaftskrise eine schmalere Bandbreite von Disziplinen und Forschungsprojekten zu finanzieren, anzufechten;

16.Sich für nachhaltige öffentliche Investitionen in breit angelegte Hochschulbildungs- und Forschungssysteme als eine Maßnahme zur Gewährleistung einer gerechten und nachhaltigen Erholung von der aktuellen gesundheitlichen, klimatischen, ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise einzusetzen;

17.Die Bedeutung der Hochschulbildung und Forschung als öffentliches Gut zu bekräftigen, die wesentliche Beiträge zur Kultur, zur Gesellschaft, zu nachhaltiger Entwicklung, zur Demokratie und zur Wirtschaft leisten;

18.Auf der Trennung der Finanzierung von der Bewertung der Qualität in der Hochschulbildung und Forschung zu bestehen und den verstärkten Einsatz kollegialer Formen der Bewertung zu fördern;

19.Für Langfristigkeit in der Hochschul- und Forschungspolitik und für einen stärkeren Schutz und eine stärkere Förderung der akademischen Freiheit als wesentliche Voraussetzung für hochwertige Lehre und Forschung einzutreten und die Regierungen des Europäischen Hochschulraums aufzufordern, ihre im Kommuniqué von Rom (2020) festgeschriebene Verpflichtung zur Wahrung der „institutionellen Autonomie, der akademischen Freiheit und Integrität, der Beteiligung der Studierenden und Lehrkräfte an der Steuerung und Organisation der Hochschulbildung, zur Wahrung der öffentlichen Verantwortung für die Hochschulbildung sowie der öffentlichen Verantwortung der Hochschulbildung“ einzuhalten;

20.Sich für die Stärkung demokratischer Institutionen, kollegiale Selbstorganisation und den sozialen Dialog als Elemente der Strategie zum Schutz der akademischen Freiheit einzusetzen;

21.Regierungen aufzufordern, das „Recht auf hochwertige und inklusive Bildung, Ausbildung und lebenslanges Lernen“, das in der Europäischen Säule sozialer Rechte (2017) verankert ist, sowohl für Hochschullehrkräfte und Forschende als auch für Studierende zu gewährleisten;

22.Sich an wichtigen Debatten über die Zukunft der Digitalisierung und Automatisierung in der Hochschulbildung zu beteiligen und zu fordern, dass die Arbeitsbedingungen, die Infrastruktur, die Personalausstattung, die Rechte an geistigem Eigentum, der Datenschutz, die öffentliche Finanzierung, die öffentliche Verantwortung für die Hochschulbildung und die öffentliche Verantwortung der Hochschulbildung durch diese Entwicklungen nicht untergraben werden;

23.Angemessen ausgestattete und finanzierte Vereinbarungen in Bezug auf das Online-Lernen und die Verhandlung dieser Vereinbarung unter Einbeziehung der Gewerkschaften der Hochschullehrkräfte zu fordern;

24.Sich in wichtige politische Debatten über arbeitsmarktorientierte Qualifikationen wie Micro-Credentials einzumischen und dabei für zentrale Grundwerte und die Bedeutung autonomer Institutionen einzutreten, die die Verbreitung von Wissen, die Forschung und die Wahrnehmung und Verteidigung demokratischer Rechte und Verantwortung für die Gesellschaft fördern, unabhängig von kommerziellem Druck und kurzfristigem Bedarf;

25.Auf eine nachhaltige und gerechte Finanzierung der Forschung zu drängen, einschließlich der bedingungslosen Zuweisung ausreichender Mittel an Hochschulen für Forschungszwecke, und für angemessene Investitionen in die Forschung in den Kunst-, Geistes- und Sozialwissenschaften; 5Europäische Regionalstruktur der BI2021EGBWKONFERENZ

26.Für eine nachhaltige Open-Education-Resources-, Open-Access- und Open-Science-Politik in der Hochschulbildung und Forschung zu kämpfen, darunter für die Entwicklung öffentlich finanzierter Plattformen für die freie Veröffentlichung von Forschungsergebnissen und frei lizensierten Bildungsmaterialien unter gleichzeitiger Wahrung des Urheberrechts der Hochschullehrkräfte und Forschenden und ihres Rechts auf Wahl der Publikationsmethode nach ihren eigenen Präferenzen;

27.Für sinnvolle Tarifverhandlungen und Instrumente des sozialen Dialogs in Hochschulbildung und Forschung einzutreten, darunter für die Notwendigkeit der Gewährleistung eines stärkeren Schutzes vor Arbeitsüberlastung und eines verbesserten Schutzes von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz;

28.Ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Forschung und Lehre in akademischen Laufbahnen zu fordern und auf Gleichstellungsprüfungen zu drängen, die sicherstellen, dass einzelne Gruppen von Mitarbeitenden nicht durch die Auswirkungen der Pandemie und der damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen benachteiligt werden – dies könnte zusätzliche Unterstützung für Mitarbeitende mit Betreuungspflichten (für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige) beinhalten, die durch den eingeschränkten oder ausgesetzten Betrieb von Schulen, Kindergärten, Krippen und Pflegeeinrichtungen beeinträchtigt sind;

29.Für die Verbesserung der Attraktivität und Professionalität von Forschungs- und Wissenschaftskarrieren zu kämpfen, darunter für „Dauerstellen für Daueraufgaben“ in Lehre und Forschung, und kurzfristig auf die Verlängerung der Verträge von befristet Beschäftigten, Doktorandinnen und Doktoranden zu drängen, um die Auswirkungen der Krise abzufedern;

30.Sich für hochwertige internationale Kooperationsprogramme und Austauschprogramme für Hochschullehrkräfte und Studierende in Europa einzusetzen.

Mehr Infos:

https://www.csee-etuce.org/en/resources/resolutions/4531-campaigning-for-a-better-future-for-higher-education-and-research-2021