Von Ewald Ackermann, SGB
Seit 1890 wird der 1. Mai weltweit gefeiert, auch in der Schweiz. Der 1. Mai spiegelt die Geschichte der teils weit verästelten sozialen Bewegungen und Parteien für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Das gilt international und auch für die Schweiz. Die Gewerkschaften stellen einen bedeutenden Teil – in vielen Staaten klar den bedeutendsten Teil – dieser Geschichte dar. Das Monopol auf den 1. Mai haben und hatten sie jedoch nicht, auch nicht in der Schweiz. Hier war der 1. Mai zudem stets regional geprägt. Es gab und gibt keine zentralen Kundgebungen. In quasi allen Gemeinden mit über 10‘000 EinwohnerInnen gab und gibt es eine 1.Mai-Veranstaltung. Das begünstigt breite politische Teilnahme und das Mitmachen von Gruppierungen, die mitunter nur über regionale Ausstrahlung verfügen.
Sichtbarkeit der Gewerkschaften
Trotz dieser auf den ersten Blick sehr heterogenen Ausgestaltung des 1. Mai in der Schweiz: In der Programmatik des 1. Mai widerspiegelt sich über mehr als 125 Jahre die jeweils aktuelle soziale Auseinandersetzung. Die Gewerkschaften nutzen den 1. Mai dazu, auf ihre wichtigsten aktuellen Forderungen aufmerksam zu machen. Sie erreichen wenn nicht Einheitlichkeit so doch thematische Konzentration dadurch, dass sie in der Fläche vertreten (also an der Organisation der jeweiligen Feiern beteiligt) sind, in der Regel an allen Kundgebungen eineN RednerIn stellen und vom SGB mit einheitlichem Material (Aufruf, zentraler Slogan, Plakat, Maibändel etc.) beliefert werden.
Forderungen im Wandel der Zeit
Dominierendes Thema des 1. Mai in den ersten 30 Jahren ist der 8-Stunden-Tag. Seit den 20er Jahren geniessen die Forderungen nach sozialer Sicherheit ebenso hohe Priorität, wobei je nach Sujet oder Organisation gesetzliche oder gesamtarbeitsvertragliche Umsetzung vorangestellt wird. Ebenso wenig verwundert, dass in der Schweiz als direkter Demokratie am 1. Mai alle kurz bevorstehenden Abstimmungen mit sozialer Tragweite thematisiert werden. In seiner Erscheinungsform hat sich der 1. Mai über die Jahre immer verwandelt und spiegelt so linke Organisationskultur. Dass der Auftritt in Zeiten des offenen Klassenkampfs kämpferischer ausfällt, in Zeiten nationaler Bedrohung durch den Faschismus dagegen nationale Symbolik verwendet, verwundert nicht. Dazu passt, dass am 1. Mai seit den 1990er Jahren gegenüber den 30 Jahren zuvor wieder vermehrt kämpferische Töne vor allem von den Gewerkschaften zu vernehmen sind. Diese fordern nicht nur neue Formen des Schutzes, sondern haben auch Erreichtes gegen Attacken von rechts zu verteidigen. Und schliesslich hat sich in den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 gezeigt, dass der 1. Mai notfalls auch als online-Veranstaltung ohne Grossaufmärsche Zigtausende mobilisieren und ein starkes Zeichen setzen kann.
Nicht gewandelt hat sich all die 125 hindurch, dass der 1. Mai neben dem Kampf- immer auch ein Festtag der Arbeiterbewegung war. Für viele BesucherInnen stellt denn auch der Festbesuch den Höhepunkt des 1.Mai-Angebots dar. Das ist nicht Ausdruck apolitischen Verhaltens, sondern erlaubt, «die Batterien wieder aufzuladen».